Zu schön um wahr zu sein

Alessa Flohe

Es war zu schön um wahr zu sein.

Noch im Mai wirkte es bei der Chatkontrolle, als stünde (fast) die gesamte deutsche Politik zusammen gegen den Angriff auf Privatsphäre und Freiheit. Selbst jene, die sonst Verfechter des Eingriffs in die Privatsphäre sind, schwiegen bedächtig, ihre Jugendorganisationen protestierten unterdessen gegen den durch die Chatkontrolle provozierten Angriff.

Ein mehrere Seiten langer Fragenkatalog ging an die EU-Kommission, Kopfschütteln bei fast allen großen Parteien, wie die Kommission ernsthaft einen solch unverhältnismäßigen und mit Ankündigung unrechtmäßigen Vorstoß machen könne.

Nun die Ernüchterung: zumindest einen großen Partner kann man wohl von der Liste und als Partner streichen.

Innenministerin Faeser betrat die Bühne und verkündete in „die Zeit“ die Forderung nach einer raschen Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. Und wieso?

Zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch. Das kennen wir doch irgendwoher. Emotionale Argumentationen („die Opfer leiden ein Leben lang“) inklusive. Ein kluger Schachzug, denn so macht es der Gegenargumentation schwer. Reflexartig möchten wir zustimmen, denn die Bekämpfung von Kindesmissbrauch ist zweifelsfrei etwas Gutes. Reflexartig mag auch ein komisches Bauchgefühl gegenüber Kritikern dieser Maßnahme bestehen.

Freiheit und Privatsphäre über das Wohl der Kinder? Ein merkwürdiger Gegensatz. Denn wer nichts zu verbergen hat…

Bevor ich mich über die Macht der Worte, die Macht des Kontext und die Macht von Gefühlen, oder unsinniger „Anti-Datenschutz-Argumente“ auslasse und in dieser Ausführung verliere, kommen wir einmal zu den Fakten:

„Auf Vorrat“ – ist Prepping denn nichts Gutes?

Die Vorratsdatenspeicherung hat nicht etwa etwas mit der Einlagerung von Stachelbeeren und Marmelade für die bevorstehende Apokalypse zu tun. Nein. Sie fordert „Anbieter öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes“ dazu auf, gewisse Verbindungsdaten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten zur Verfügung zu stellen. Hierfür müssen die Daten weit über die zulässige Vertragsdauer und auch ohne Anfangsverdacht gespeichert werden.

Kurzum: Eure Daten werden anlasslos auf Vorrat gespeichert. Nicht bei Polizei- oder anderen Sicherheitsbehörden, sondern bei (privaten) Anbietern von Kommunikationsdienstleistungen.

Das Problem?

Zum einen übernehmen private Dritte ohne Anlass Aufgaben von Strafverfolgungsbehörden. Dadurch haben diese über die zulässige Vertragsdauer hinweg Zugriff auf eure persönlichen Daten und können diese, im schlimmsten Falle, auch missbrauchen. Dem Staat fehlt schlichtweg die Kontrolle über diesen Verarbeitungsschritt. Außerdem könnt ihr euch gegen diese Maßnahme nicht wehren. Persönlichkeitsprofile können erstellt werden, euer Surfverhalten wird gläsern. Überlegt einmal, was ihr alleine im Laufe eines Tages für Spuren im Internet hinterlasst. Und dann rechnet euch das zusammen. Wie wir bereits sagten: 1984 war keine Anleitung!

Und selbst wenn sie bei Strafverfolgungsbehörden gespeichert würden: die Meldungen der Aufsichtsbehörden über den Missbrauch personenbezogener Daten durch die Polizei, etwa sog. „Doxxing“, aber auch andere Vorfälle, sind nicht selten. Allein die Berliner Polizei wurde mehrfach dabei „ertappt“, wie sie aus privaten Gründen Abfragen tätigten. Auch die Datenschutzbeauftragte von NRW sprach diesen Missstand bereits in ihren Tätigkeitsberichten an.

Der Weg zum Gläsernen Bürger.

Die Erhebung erfolgt außerdem ohne Anfangsverdacht. Damit gelten alle in Deutschland lebenden Menschen als potentiell verdächtig – und sind betroffen.

Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach bekräftigt, dass das anlasslose Speichern von Kommunikationsdaten auch im Kampf gegen Kriminalität gegen das Recht der Europäischen Union verstößt.

Erst heute, am 20. September 2022, wurde der „alte“ Deutsche Weg erneut durch den EuGh abgeschmettert. Nationale Regeln, die „präventiv eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten, die elektronische Kommunikationen betreffen, zum Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten vorsehen“, seien jedoch laut EuGH rechtswidrig.

Ist das Thema VDS damit vom Tisch?

Allerdings stellte der EuGH auch fest: „Zur Bekämpfung schwerer Kriminalität können die Mitgliedsstaaten jedoch unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit insbesondere eine gezielte Vorratsspeicherung und / oder eine umgehende Sicherung solcher Daten sowie eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von IP-Adressen vorsehen“ (Quelle: tagesschau.de)

Laut Bundesregierung soll „unmittelbar“ nach diesem Urteil ein mit dem Urteil vereinbarer Gesetzesentwurf vorgelegt werden.

Das mögliche Quick-Freeze-Verfahren

Das bedeutet es könnte sich auch um das im Koalitionsvertrag festgelegte „Quick-Freeze-Verfahren“ handeln. Dabei werden Internetprovider erst bei einem konkreten Anfangsverdacht aufgefordert, Verbindungsinformationen zu speichern.

Dann ist jedoch der Begriff „Vorratsdatenspeicherung“ aus dem Interview irreführend, da diese ganz konkret die anlasslose Speicherung von Informationen meint.

Meine Hauptkritik bleibt jedoch auch bei diesem Verfahren: auch hier übernehmen im Zweifel Private Aufgaben staatlicher Strafverfolgungsbehörden, ohne entsprechenden Regelungen zu unterliegen.

Auch Missbrauchsopfer sind von „Vorratsdatenspeicherung“ betroffen

Auch ihre Verbindung zu anonymen Beratungsangeboten im Netz werden zusammen mit ihren IP-Adressen (die Personen zugeordnet werden können) gespeichert. Auch aus Sicht des Opferschutzes ist die Speicherung der Informationen als kritisch zu betrachten. (Potentielle) Täter sitzen zudem in allen Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten.

Mildere Mittel werden nicht umgesetzt.

Solange es keine Pflicht des BKA gibt, Missbrauchsmaterial aus dem Internet zu entfernen, solange die Strafverfolgungsbehörden nicht gut genug ausgestattet sind, solange Opferschutz Aufgabe privater Vereine ist und nicht Kernaufgabe des Staates, solange sind solch eingriffsintensive Maßnahmen abzulehnen.

Patrick Breyer, MdEP der Piraten, kommentiert Faesers Vorstoß so:

„Vorratsdatenspeicherung ist ein völlig untaugliches Mittel zum Schutz von Kindern, umgekehrt dient Anonymität ihrem Schutz, indem sie anonyme Beratung, Selbsthilfe und Anzeigen ermöglicht. Als wir 2009 in Deutschland eine sechsmonatige IP-Vorratsdatenspeicherung hatten, ging die Aufklärungsquote sogar zurück, weil eine Vorratsdatenspeicherung Straftäter zum Einsatz Anonymisierungsstrategien veranlasst, so dass ihre Kommunikation selbst im Verdachtsfall nicht mehr zu überwachen ist,“ warnt Breyer.

„Der richtige und überfällige Weg, um sexuellem Missbrauch und dessen Ausbeutung wirksam entgegen zu treten, sind verstärkte Präventionsmaßnahmen und -projekte sowie anonyme Beratungs- und Therapieangebote. Auch dass polizeiliche Durchsuchungen und Auswertungen in Verdachtsfällen oft Monate oder Jahre dauern, ist inakzeptabel.“

Fakt ist, dass über die Speicherung der Daten Persönlichkeitsprofile erstellt und unsere Privatsphäre untergraben wird.

Das Quick-Freeze-Verfahren, welches erst nach Anfangsverdacht eine Speicherung vorsieht, wäre immerhin besser als die anlasslose Überwachung, hier würde man aber nur als Laie unreflektiert von Vorratsdatenspeicherung sprechen.

Aufgrund der Übertragung hoheitlicher Aufgaben an Private, aufgrund der fehlenden Möglichkeit zum Rechtsbehelf und aufgrund fehlender, milderer Mittel ist jedoch auch diese Möglichkeit z.Z. abzulehnen.

Wichtiger ist es, die Strukturen die zu Missbrauch führen, zu durchbrechen. Wichtig sind Präventionsprogramme, Beratungs- und Therapieangebote, Fortbildungen für Lehrpersonal, KiTa-Betreuer und Ärzte (sowie andere, mit Kindern in Kontakt kommende Personen) und eine bessere polizeiliche Ausstattung – gerade im Cyber-Bereich.

Um mit einem Zitat unserer Themenbeauftragten für Digitalen Wandel, Anja Hirschel, zu schließen: Erlaube deiner liebsten Regierung nur das, was du auch deiner schlimmsten erlauben würdest.

Dieser Beitrag erschien ebenfalls auf dem privaten Blog der Autorin: https://alessandralessa.wixsite.com/quotenfrau/post/zu-sch%C3%B6n-um-wahr-zu-sein-fck-vds

Über den Autor

Alessa Flohe vertritt die Piratenpartei Kerpen seit 2020 im Stadtrat, wo sie sich der FDP-Fraktion angeschlossen hat und stellvertretende Fraktionsvorsitzende ist. Zusätzlich ist sie als stv. sachkundige Bürgerin im Regionalentwicklungsausschuss des Rhein-Erft-Kreis aktiv.

Als behördliche Datenschutzbeauftragte ist sie firm in Belangen der Verwaltung und hat damit einen guten Einblick, wie man die Kommune voranbringen kann. Nebenher studiert sie Wirtschaftsrecht mit Schwerpunkt Medien- und Internetrecht. Ihre Schwerpunkte sind Netzpolitik und Entwicklung, ihr Hintergrund als Fachinformatikerin liefert dort das notwendige Know-How.